05.11.2025

H-und-G.info. Schwerpunkt 2/25: Die Entführung ukrainischer Kinder

H-und-G.info:

Die Perspektive anstehender Verhandlungen über einen Waffenstillstand und einen nachfolgenden Friedensschluss gab den Anstoß zu einer Kampagne, die von einem Bündnis zahlreicher namhafter Menschenrechtsorganisationen ins Leben gerufen wurde. Sie trägt die Bezeichnung „People First“. Das Bündnis setzt sich dafür ein, Personen, die sich in Haft befinden und deren Gefangenschaft mit der russischen Invasion in der Ukraine zusammenhängt, zurückzubringen. Das sind Kriegsgefangene beider Seiten, ukrainische, nach Russland verschleppte oder in den besetzten Gebieten inhaftierte Zivilpersonen oder auch politische Gefangene, die in Russland gegen den Krieg protestiert hatten. Bei allen Verhandlungen sollte es vorrangig um die umgehende und bedingungslose Freilassung dieser Personen gehen. Ukrainische Zivilgefangene – die es in einem Krieg gar nicht geben dürfte – sind bisher nur in seltenen Fällen im Rahmen eines Austauschs freigekommen.

Besonders problematisch ist hier die Situation von Personen, deren Identität oder Verbleib nicht zuverlässig ermittelt werden konnte – das gilt für Vermisste (vor allem in Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens) und für deportierte Kinder. Letzteres Thema ist in letzter Zeit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt, auch im Zusammenhang mit dem fragwürdigen „Gipfel“ in Alaska. Trump überreichte Putin ein Schreiben seiner Frau Melania, die eben dieses Problem ansprach und um eine Lösung bat (das einzige positive Moment auf diesem Gipfel).

Deportation von Kindern aus der Ukraine nach Russland und Belarus

Anders als weitgehend angenommen begannen die Deportationen von Kindern aus der Ukraine nicht erst mit der russischen Vollinvasion 2022, sondern bereits 2014. Beispielsweise wurden aus dem Donbas Kinder aus vier Kinderheimen nach Russland verschleppt. Damals gelang es jedoch der amtierenden ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Valerija Lutkovskaja, dies zu unterbinden und die Rückkehr der Kinder in die Ukraine durchzusetzen. Auf der besetzten Krym gab es ähnliche Vorfälle.

Systematische Deportationen in großem Ausmaß setzten kurz vor Beginn der Großinvasion ein. Von der Zwangsumsiedlung aus besetzten Gebieten waren natürlich auch Kinder betroffen. Das waren einerseits Kinder, die zusammen mit ihren Eltern vor der anstehenden Invasion (auch wenn diese vor ihrem Beginn bestritten wurde) evakuiert wurden. Diese Fälle sind im vorliegenden Zusammenhang weniger spektakulär und problematisch. Andererseits wurden auch Kinder aus Kinderheimen oder Waisenhäusern in die Russische Föderation verbracht unabhängig davon, aus welchen Gründen die Kinder sich in den Heimen aufhielten und ob Erziehungsberechtigte in der Ukraine bekannt waren. Diese Praxis wurde nach „offiziellem“ Beginn des verharmlosend als „spezielle Militäroperation“ bezeichneten Krieges in großem Stil fortgesetzt. Am Rande sei erwähnt, dass Kinder auch nach Belarus verbracht wurden, aber offenbar nur für eine befristete Zeit, um später doch in die Russische Föderation zu gelangen. Belarusische Behörden waren somit ebenfalls involviert.

Eine unbekannte höhere Anzahl von Kindern geriet im Zusammenhang mit Fluchtversuchen der Eltern aus Kampfgebieten nach Russland. Trotz anderslautender Zusagen gab es nur selten die Möglichkeit, diese Gebiete über geschützte Korridore zu verlassen. Diese wurden regelmäßig durch russische Truppen beschossen. Immer wieder boten russische Behörden Fluchtwilligen Busse für die Evakuierung an, die sie nach Zaporizhzhia bringen sollten und die dann verabredungswidrig in die Stadt Donezk (ins russisch besetzte Gebiet) fuhren. Außerdem mussten Kontrollpunkte passiert werden, die von russischen Soldaten und (meist noch aggressiveren) Kämpfern aus den „Volksrepubliken“ (v. a. der „DNR“ – „Donezker Volksrepublik“) besetzt waren. In den „Filtrationslagern“ wurden Kinder häufig von ihren Eltern getrennt und unbegleitet nach Russland verschleppt. Darüber hinaus wurden Kinder deportiert, die ihre Eltern während der Kampfhandlungen verloren hatten, insbesondere in den ersten Kriegsmonaten in Mariupol.

Eine weitere Gefahr ergab sich mit dem Fortschreiten des Krieges. Aus verständlichen Gründen willigten Eltern in den besetzten Gebieten mitunter ein, ihre Kinder zur Erholung in Ferienlager zu schicken, die sich ebenfalls in besetzten Gebieten (etwa auf der Krym) oder in Russland selbst befanden. Sie wollten ihre Kinder zumindest zeitweilig entlasten und aus dem unmittelbaren Kriegsgeschehen herausbringen. Im Sommer 2022 wurden größere Teile dieser Gebiete befreit und kamen wieder unter ukrainische Kontrolle. Prompt weigerten sich die Besatzungsbehörden, den Kindern, die sich in ihrem Machtbereich aufhielten, eine Rückkehr zu ermöglichen. Sie waren in eine Falle geraten, und es erforderte einen immensen Aufwand seitens der Angehörigen, sie wieder nach Hause zu holen.

<…>

Im (nicht Kreml affinen) Ausland stießen die Deportationen auf Entsetzen. Zahlreiche internationale Organisationen initiierten Untersuchungen, der UN-Menschenrechtsrat setzte eine unabhängige internationale Untersuchungskommission ein. Die spektakulärste Reaktion kam vom Internationalen Strafgerichtshof. Dieser leitete am 13. März 2023 ein Strafverfahren gegen Wladimir Putin und Maria Lvova-Belova ein. Am 17. März 2023 folgte ein internationaler Haftbefehl, da sie nachweislich für die Entführung ukrainischer Kinder (mit)verantwortlich sind und sich auch dazu bekennen, wenn auch euphemistisch verbrämt. Die Deportationen wurden nach dem Römischen Statut (Art. 8) als Kriegsverbrechen eingestuft. Die Charkiver Menschenrechtsgruppe, vertreten durch Evhen Sacharov, sieht hier jedoch den Tatbestand des Genozids erfüllt und plädiert für eine Qualifizierung nach Art. 6 des Römischen Statuts. Ausschlaggebend ist für Sacharov der erwähnte Erlass Putins zum vereinfachten Verfahren der Einbürgerung ukrainischer Kinder. Die „gewaltsame Überführung von Kindern in eine Gruppe, in der sie eine andere Erziehung als in ihrer eigenen Gruppe erhalten, in der sie neue Bräuche, eine neue Religion und wahrscheinlich eine neue Sprache lernen“, erfüllt die Kriterien der Genozid-Konvention.

Fest steht, dass die ukrainischen Kinder in Russland systematisch ihrer Identität als Ukrainer beraubt werden. Ihre Sprache wird ihnen verboten, ihre Kultur und Geschichte tabuisiert und – soweit möglich – aus ihrem Gedächtnis ausradiert. In solchen Fällen dürfte selbst eine Rückkehr in die Ukraine nach einem längeren Zeitraum den Schaden nicht beheben können, allenfalls bei älteren und psychisch besonders robusten Kindern. Ein schweres Trauma wird in jedem Fall zurückbleiben.

The full article by Vera Ammer in German:

 

Exit mobile version